Die Bilanz, die
Kardinal Siri über die Arbeiten der ersten Periode zog, war beunruhigend:
"Das Konzil hat enthüllt:
dass sich eine vage Form von Leitung der
Kirche abzeichnet, die von der deutschsprachigen Gruppe und deren Verwandten
oder Nachbarn repräsentiert wird. Diese ist auch aliquatenus organisiert. Es ist ein sehr
partieller Versuch, von dem man nicht mit Sicherheit behaupten kann, dass ihn
jemand als klaren und gewollten Plan im Kopf hat, aber er ist in den Fakten
enthalten;
dass es eine Wut auf die Vernunft, die
Theologie und das Recht gibt. Man siehe das Ziel des Kerygmalismus, das oft
darin besteht, Tradition, Ecclesia
etc. zu eliminieren. Dies geschieht eher unbewusst als bewusst, wird aber
gestützt durch fehlende Intuition derjenigen, die möglichst alles an die
Protestanten, die Orthodoxen etc. anpassen wollen;
dass in vielen Fällen die Literatur, nicht die
Theologie vorherrschend ist. Viele schöne und auch gute Ausführungen sind
literarische Betrachtungen des Dogmas und behandeln dieses nicht an sich; dass
man von einer Theologia nova spricht
und dass ihr Konzept und auch ihr Ziel ziemlich obskur und eventuell gefährlich
erscheinen. Der Terminus Theologia
nova ist von einem belgischen Theologen auf dem Konzil geprägt worden.
Das Klima, das diese erste Phase der Debatte
kennzeichnete, wurde von Melissa Wilde als „kollektive Erregung“ bezeichnet. Mit diesem Terminus definiert der
Soziologe Durkheim „den Zustand, in dem sich die Menschen befinden, wenn ... sie glauben, in eine Welt versetzt zu
sein, die von derjenigen, die sie vor Augen hatten, völlig verschieden ist“. Dieser seelische Zustand ist aus Sichtweise der
Soziologen die Frucht interpersonaler Beziehungen einer großen Gruppe von
Personen, die zum ersten Mal zusammengekommen sind und ihrem ,Zusammensein‘ in
einem Klima der Euphorie einen Sinn zusprechen. „Ein euphorischer Zustand“, erklärt nochmals Wilde, „ist das Ergebnis
Zusammenkommens von Individuen, in diesem Fall, um Ehre zu erweisen, um zu
diskutieren und um sieh für die Veränderung einer altehrwürdigen Institution,
an die alle glühend glauben, einzusetzen.“
Dieses Phänomen ist unter den Historikern
wohlbekannt. Ronald A. Knox hat eine gründliche Studie über den „religiösen
Enthusiasmus“ erstellt und darin
aufgezeigt, dass das Modell des „charismatischen Enthusiasmus“ ein seit den Zeiten der montanistischen Häresie
stets wiederkehrendes Modell darstellt. Die Briefe von Msgr. Helder Cämara
scheinen ein typisches Beispiel für dieses Klima der Selbsterhöhung zu liefern, die mit wenig
geistlicher Unterscheidungsgabe dem Wirken des ,Heiligen Geistes‘ zugeschrieben
wurde. Es überrascht daher nicht, wenn viele Bischöfe, die während des Konzils
von P. Rocco Caporale interviewt wurden, ihre persönliche Erfahrung der ersten
Sitzungsperiode auf den ,Heiligen Geist‘ zurückführten. In dieser
Sitzungsperiode begann der ,Geist des
Konzils‘ zu einem ,locus theologieus‘ zu werden.
Aus: Roberto de Mattei
Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte
Stuttgart (2) 2012
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