Wunderberichte der Evangelien haben oft moralische Nebenaspekte, die ein ergiebiges Reservoir an Themen für Predigten bieten.
Da ist die Heilung eines Blinden (Mc. 10, 46-52; Lc. 18, 35-43; ähnlich Mtth. 20, 30-34): als er Jesus um Erbarmen («eleïson») gebeten hat, fragt Jesus noch nach, was er wolle; und erst als er es gesagt hat – daß sie wieder sehen können –, tut Jesus dieses Wunder.
Das Thema für den Prediger: man müsse erst klar wissen und auch aussprechen, was man will, dann erst könne es geschehen.
Aber: bei den meisten Wundern hat Er nicht weiter nachgefragt. Dem Gelähmten, der durchs Dach herabgelassen wurde (Mtth. 9, 2-8; Mc. 2, 2-12; Lc. 5, 18-26), vergab Er seine Sünden, worum niemand gebeten hatte und was niemand erwartet hatte; und erst nach einer Erläuterung tat Er das Wunder, das man erhofft, aber immer noch nicht ausdrücklich erbeten hatte.
Nach der Heilung jenes Blinden sagt Jesus: «Dein Glaube hat dich geheilt», einen Satz, den Er auch nach mehreren anderen Wundern sagt.
Das Thema für den Prediger: das, was eigentlich heilt, sei der Glaube.
Aber: bei den Brotvermehrungen hat zuvor niemand mit dem Wunder gerechnet, niemand einen Glaubensvorschuß geleistet. Und beim Weinwunder von Kana (Joh. 2, 1-11) hat nur Maria geglaubt, daß Jesus mit einem Wunder eingreifen könnte – und die war ja gar nicht die eigentliche Nutznießerin des Wunders. «Seine Jünger glaubten an ihn», steht am Ende des Berichts: der Glaube ging nicht dem Wunder voraus, sondern wurde durch ihn gestärkt.
Ein Aussätziger bittet um Heilung (Mtth. 8, 2; Mc. 1, 40-45; Lc. 5, 12-16). Jesus berührt ihn und heilt ihn.
Das Thema für den Prediger: Jesus berührt den, der aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen ist, der für die anderen unberührbar ist; ja, Jesus macht sich sogar selbst unrein, indem er ihn berührt.
Aber: sobald Jesus ihn berührt, ist der Mann geheilt, ist er rein. Die Vorschriften des Gesetzes über die Unreinheit von Aussätzigen stellt Jesus nicht in Frage; im Gegenteil: er trägt dem Geheilten auf, sich dieser Vorschrift gemäß dem Priester zu zeigen. Jesus wird von Schriftgelehrten manches vorgehalten: daß Er am Sabbat heilt, daß seine Jünger am Sabbat Ähren rupfen (Lc. 6, 1), daß sie mit ungewaschenen Händen essen (Mtth. 15, 2; Mc. 7, 8); aber daß Er nach der Berührung mit dem Aussätzigen nun selber unrein sei, kommt offenbar keinem Schriftgelehrten in den Sinn.
Es ist zu verstehen, daß Prediger bei jedem Wunder im Sonntagsevangelium einen besonderen Aspekt für ihre Predigt suchen; darum ist es erlaubt, solche moralischen Aspekte in den Blick zu nehmen. Aber schon bei der erwähnten Heilung des Aussätzigen zeigt sich, daß auch etwas ins Evangelium hineingelesen wird, was gar nicht darin steht.
Die schwererwiegende Gefahr aber ist, daß die eigentliche Bedeutung der Wunder aus dem Blick gerät: die göttliche Macht Jesu zu zeigen, die sich in den Wundern zeigt. Als Johannes, der Täufer, Jesus fragen läßt, ob Er der sei, der da kommen wird, beruft Jesus sich auf seine Wunder, um sich als Messias auszuweisen (Mtth. 3-5; Lc. 7, 19-22); und wenn Er auch sagt: «Selig sind die, die nicht sehen und [doch] glauben» (Joh. 20, 29), so sagt er an anderer Stelle (Joh. 10, 37 f.): «Wenn ich nicht die Werke meines Vaters tue, glaubt ihr mir nicht. Wenn aber ich sie tue: auch wenn ihr mir nicht glauben wollt, glaubt den Werken, damit ihr erkennt und glaubt, daß in mir der Vater ist und ich im Vater.»
Besonders entstellend ist solche moralische Auslegung bei den Brotvermehrungen (Mtth. 14, 13-21; Mc. 6, 30-44; Lc. 9, 10-17; Joh. 6, 1-13; Mtth. 15, 32-39; Mc. 8, 1-10).
Die Sicht manches Predigers: Als die Jünger hervorgeholt hatten, was der Junge bei sich hatte (Joh.) / sie bei sich hatten (Synopt.), und es auszuteilen begonnen hatten, hätten alle ihren Proviant ausgepackt, und so seien alle satt geworden.
Aber: dadurch würden die vorherigen sorgenvollen Überlegungen und Besprechungen der Apostel, wie die Evangelien sie schildern, ad absurdum geführt; und Jesu späterer Hinweis auf das Verhältnis der Zahl der ausgeteilten Brote und der der Körbe mit eingesammelten Bröckchen (Mtth. 16, 9 f.; Mc. 8, 19 f.) wäre dieser Sicht nach belanglos. Diese Sicht tut den Evangelientexten Gewalt an – und doch ist sie mir nicht nur einmal begegnet.
Die Berichte von den Brotvermehrungen haben in den Evangelien besonderes Gewicht: kein anderes Wunder als die erste Brotvermehrung wird in allen vier Evangelien berichtet; und auf keine anderen Wunder geht Jesus selber danach noch so ausführlich ein (deswegen ist auch von zwei Brotvermehrungen auszugehen und nicht etwa von einer, die in zwei Evangelien je zweimal, jeweils etwas anders, erzählt würde).
Und sie stehen jeder psychosomatischen Erklärung, wie sie bei den Heilungen denkbar wäre, entgegen.
So erhebt sich der Verdacht, daß manch einer sie weginterpretieren will, weil er nicht Jesu göttliche Vollmacht auch über die Natur – «Welch einer ist dieser, daß auch die Winde und das Meer ihm gehorchen?» (Mtth. 8, 27) – anerkennen will.
Und so erlaube ich mir Vorbehalte gegen moralische Ausdeutungen von Wunderberichten, und ich bin dankbar für die klare Aussage der Berichte von den Brotvermehrungen.