Von Robert Spaemann
Nur eine Hermeneutik des Konzils kann die künftigen Gespräche der katholischen Kirche mit den Traditionalisten fruchtbar machen
Der Erfolg künftiger Gespräche mit der Pius-Bruderschaft hängt weitgehend davon ab, ob sich die Parteien über das Zweite Vatikanum verständigen können. Die Fragen sind nicht neu: Auch nach der Abspaltung der Lefèvbrianer hat die Päpstliche Kommission Ecclesia Dei die strittigen Punkte mit den traditionsverbundenen Gläubigen diskutiert. Doch was ist darunter zu verstehen, dass jemand uneingeschränkt auf dem Boden des Konzils stehen soll? Die Forderung nach vollständiger Anerkennung aller Konzilstexte wird auch erhoben von Menschen, die für ihren Teil weit entfernt davon sind, dieser Forderung zu entsprechen. Der folgende Beitrag beleuchtet dieses Dilemma.
Mitglieder der Pius-Bruderschaft, denen es ernst ist mit dem Willen zur Versöhnung, werden zwei Probleme haben. Das erste betrifft die Liturgie. Erzbischof Lefèbvre weigerte sich, die Messe nach den Büchern Pauls VI. zu feiern. Dass die Neue Messe die „Messe des Konzils“ sei, diese Behauptung wird durch häufige Wiederholung nicht wahrer. Als Messe des Konzils, als Verwirklichung der Konzilsbeschlüsse hat der damalige Kardinalstaatssekretär das Missale von 1965 präsentiert, das wenige Jahre danach in der Versenkung verschwand und 1970 durch den „Novus Ordo Missae“ ersetzt wurde. Dieser neue Messritus und mehr noch die gegenwärtige tatsächliche Messpraxis stehen in offenkundigem Widerspruch zu mehreren Forderungen der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanum, der ja übrigens auch Erzbischof Lefèbvre zugestimmt hatte.
Dennoch, der Ritus Pauls VI. ist durch den legitimen Gesetzgeber eingeführt, und an seiner Rechtmäßigkeit und Gültigkeit kann kein Zweifel bestehen. Schon Johannes Paul II. aber hatte das Verbot der alten Messe zurückgenommen (von dem Benedikt XVI sagt, es habe nie wirklich bestanden) und die Bischöfe dringend gebeten, den Gläubigen „großherzig“ entgegenzukommen, die sich dem alten Ritus verbunden fühlten. Da Großherzigkeit in der Folge sich leider nicht einstellen wollte, entsprach Benedikt XVI. der bereits vor Jahren präsentierten Petition von 70 000 der Pius-Bruderschaft nicht verbundenen Katholiken, gab allen darum bittenden Gläubigen einen Rechtsanspruch auf Messfeiern im nun offiziell legitimierten „außerordentlichen Usus“ des römischen Ritus und jedem katholischen Priester das Recht, ohne irgendeine weitere Genehmigung die heilige Messe in der alten Form zu feiern. Er selbst hatte als Kardinalpräfekt der Glaubenskongregation wenigstens zweimal im alten Ritus zelebriert, davon einmal das Osterhochamt im Kreis der Petrusbruderschaft in Wigratzbad und einmal auf einer Jahrestagung der Laienvereinigung Pro Missa Tridentina. Seine jetzige Entscheidung traf er aus eigener Überzeugung – motu proprio –, erfüllte aber damit zugleich eine der beiden Bedingungen, an die die Pius-Bruderschaft ihre Dialogbereitschaft geknüpft hatte.
Zur Kirche gehören und die Papstmesse ablehnen? Nein!
Das Problem, das die Bruderschaft nach wie vor hat, ist die Anerkennung der Gültigkeit und Legitimität der „neuen Messe“. Was sie im Gegensatz zu ihrer gegenwärtigen Praxis zweifellos wird anerkennen müssen, ist, dass jeder Katholik seine „Sonntagspflicht“ erfüllt, wenn er der Messe im neuen Ritus beiwohnt, vorausgesetzt, dass diese tatsächlich nach den Büchern der Kirche gefeiert wird. Auch weitere Akte der Anerkennung können verlangt werden, so zum Beispiel die Benutzung der konsekrierten Hostien im Tabernakel, die aus einer Messfeier im Novus Ordo stammen oder auch den Kommunionempfang in der Messe des Ortsbischofs. Absurd ist der Gedanke, es könnte jemand der katholischen Kirche angehören, es aber ablehnen, beim Papst zur Messe zu gehen und aus seiner Hand die Kommunion zu empfangen. Das muss der Bruderschaft klar sein. Nicht verlangt werden kann die Konzelebration, was das Konzil ausdrücklich betont.
Die Forderung nach „vollständiger Annahme aller Konzilstexte“ hört sich allerdings seltsam an aus dem Munde von Priestern, die ihrer Verachtung des außerordentlichen Gebrauchs, also der alten Messe, offen Ausdruck geben. So, um nur ein Beispiel zu nennen, ein Prälat, Stadtdekan und Dompfarrer, der auf die Frage eines Gläubigen, ob er nicht auch einmal das erste Hochgebet, den römischen Kanon, benutzen könne, antwortete: „Den fasse ich nicht einmal mit der Beißzange an“. Dazu muss man wissen, dass das Trienter Konzil jeden mit der Exkommunikation belegt hat, der diesem Hochgebet irgendeine Mangelhaftigkeit vorwirft.
Die zweite Bedingung der Bruderschaft, die Aufhebung der Exkommunikation, erfüllte der Papst erst, als sie nicht mehr in der Form einer Bedingung vorgetragen wurde, sondern als demütige Bitte. Auch hat der Papst die damalige Exkommunikation nicht für ungültig von Anfang an erklärt, sondern sie nur ab sofort beendet.
In den künftigen Gesprächen wird eine Bedingung der Kirche an die Bruderschaft sein: „Annahme des Zweiten Vatikanischen Konzils“. So hat es Papst Benedikt XVI. in seinem Schreiben an den Weltepiskopat vom 10. März formuliert. Die Deutsche Bischofskonferenz, die hier von Rechts wegen überhaupt nichts zu erlauben oder zu verbieten hat, glaubte die Bedingungen für einen Dialog noch verschärfen zu müssen, indem sie von „vollständiger Annahme“ des Konzils spricht. Aber was heißt „Annahme“? Hier liegt das zweite Problem der Pius-Bruderschaft, allerdings auch das der meisten ihrer Gegner. Annahme kann heißen, das Konzil nicht wie eine Räubersynode behandeln und auf die Anklagebank zu setzen (wie es Lefèbvre getan hat), sondern es als rechtmäßiges, vom Papst einberufenes und präsidiertes Konzil anzuerkennen und damit seine Erklärungen, Konstitutionen und Dekrete als rechtmäßige Akte der höchsten kirchlichen Autorität zu respektieren.
„Vollständig annehmen“, das kann aber auch heißen, allen Beschlüssen des Konzils vollinhaltlich bedingungslos zustimmen. So klingt es in der Forderung an die Bruderschaft von der Deutschen Bischofskonferenz, und so wird es von vielen verstanden. Dieses Verständnis ist aber falsch. Wenn es richtig wäre, dann müsste ein großer Teil der heutigen katholischen Theologieprofessoren, aber auch der Bischöfe, exkommuniziert, aber zumindest suspendiert werden. Denn sie denken gar nicht an eine solche vollständige Annahme des Konzils, die sie von anderen verlangen. Hier wirft jemand aus dem Glashaus mit Steinen. Schon das Kleine Konzilskompendium von Karl Rahner und Herbert Vorgrimler erteilt munter denjenigen Texten des Konzils Zensuren, die den eigenen theologischen Vorstellungen nicht entsprechen. Ich nenne im Folgenden einige Beispiele offenen Dissenses und Ungehorsams, die bisher niemals sanktioniert wurden.
1. Da gibt es zunächst die Leugnung von Glaubenssätzen, die im Zweiten Vatikanum wiederholt, aber bereits von früheren Konzilien definiert wurden, und zum festen Glaubensbestand der katholischen Kirche gehören: Die Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes, die Lehre von der Gottheit Jesu Christi und von seiner jungfräulichen Empfängnis, der Charakter des Kreuzestodes Jesu als eines Opfers zur Vergebung der Sünden, der bereits in den Abendmahlsworten Jesu formuliert wird und im Zentrum der Verkündigung aller Apostel steht. Das Konzil benützt das Wort „Messopfer“ über zwanzigmal. Die Anwendung des „Gottesknechtsliedes“ des Propheten Jesaja auf Jesus ist ein Topos der christlichen Verkündigung schon in der Apostelgeschichte. Mit der Bestreitung dieser Deutung durch katholische Theologieprofessoren (darunter ein Guardini-Preisträger) und sogar Bischöfen wird natürlich auch die Deutung der Messe als einer Gegenwärtigsetzung des Opfers Christi und damit der Begriff des „Messopfers“ obsolet. Den Opfercharakter der Messe aber hat das Konzil von Trient zum Dogma erhoben. Und das Zweite Vatikanum benutzt den Ausdruck „Messopfer“ über zwanzigmal.
2. Das Zweite Vatikanum spricht von der Heilsnotwendigkeit der Kirche und der alleinigen Mittlerschaft Jesu Christi und formuliert: „Darum können jene Menschen nicht gerettet werden, die um die katholische Kirche und ihre von Gott durch Christus gestiftete Heilsnotwendigkeit wissen, in sie aber nicht eintreten oder in ihr nicht ausharren wollen.“ Dass Christus, um den Heilsweg immer offenzuhalten, die höchste Autorität der Kirche mit der Gabe der Unfehlbarkeit in Glaubens- und Sittenlehren ausgestattet hat, wird ebenfalls vom Zweiten Vatikanum betont. Dessen ungeachtet wird eine Relativierung und ein skeptischer Pluralismus heute von einer bedeutenden Zahl von Theologen vertreten. Man kann nun so fortfahren.
3. Da ist der Zölibat der Priester, der als kostbare Gabe bezeichnet wird, um deren Erhaltung Priester und Gläubige dringlich und inständig beten sollen. Ist es ein unglücklicher Zufall, dass mir in den letzten vierzig Jahren ein Aufruf zu solchem inständigen Gebet geschweige denn ein gemeinsames Gebet in der Kirche in diesem Anliegen nie bekannt geworden ist?
4. Die tägliche Feier der heiligen Messe ist für Priester nicht mehr selbstverständlich. Mancherorts wird Priestern die Einzelzelebration unmöglich gemacht, während das Konzil schreibt, „dass die tägliche Feier des Werkes unserer Erlösung dringend empfohlen wird. Sie ist auch dann, wenn keine Gläubigen dabeisein können, ein Akt Christi und der Kirche.“ Wer von denen, die die „vollständige Annahme“ aller Konzilstexte verlangen, hat die hier erwähnten Texte jemals „angenommen“?
5. Und wenn im Dekret über die Priesterausbildung gesagt wird, die jungen Theologen sollten „mit dem Heiligen Thomas als Meister“ lernen, „in die Heilsgeheimnisse spekulativ tiefer einzudringen“, so ist doch auch dies offenkundig ein frommer Wunsch geblieben.
6. Als Probierstein für die Anerkennung des Zweiten Vatikanum wird häufig die Stellung zu dem Dekret über Kirche und Welt, Gaudium et spes, hervorgehoben. Einer der Sätze dieser Konstitution lautet: „Es ist den Kindern der Kirche nicht erlaubt, in der Geburtenregelung Wege zu beschreiten, die das Lehramt in Auslegung des göttlichen Gesetzes verwirft.“ In der Königsteiner Erklärung hat die Deutsche Bischofskonferenz bereits vor vielen Jahren das Gegenteil erklärt. Eine ähnliche Erklärung haben die österreichischen Bischöfe seinerzeit in Maria Trost abgegeben. Nur wenige Hirten haben bisher „den Sündenfall der Bischöfe“ (Kardinal Schönborn) öffentlich kritisiert. Viele Priester und Lehrer der Theologie lehnen den zitierten Satz des Konzils mit Entschiedenheit ab.
7. Das Konzil hat verboten, irgendeine liturgische Neuerung einzuführen, die nicht durch einen „sicher zu erwartenden“ geistlichen Nutzen gerechtfertigt sei. Es hat das Lateinische als die Sprache der römischen Liturgie bestätigt und nur für Teile der Messe – gedacht war an den Wortgottesdienst – den Gebrauch der Volkssprache ermöglicht. Es hat den gregorianischen Choral als den spezifischen Gesang der Kirche bezeichnet und gefordert, dass die Gläubigen die ihnen zukommenden lateinischen Texte entsprechend singen können. Es hat davon gesprochen, dass der Priester „an der Spitze des Gottesvolkes“ dessen Gebete vor Gott trägt, und nicht, dass er seine Gebetsrichtung umkehrt und dem Volk gegenübertritt. Dass der Priester in der Kommunion nicht Gastgeber, sondern erster Empfänger ist, der die Gabe weitergibt, die er empfangen hat, kommt in der kurzen Bestimmung zum Ausdruck, dass die Kommunion der Gläubigen nach der des Priesters stattfindet. Kein Konzilsvater wäre ferner auf die Idee gekommen, das Nizänische Glaubensbekenntnis, das uns mit allen katholischen, orthodoxen und anglikanischen Kirchen verbindet und das die evangelischen Konfirmanden bis heute auswendig lernen, zum Verschwinden zu bringen und durch das Apostolische zu ersetzen. Das aber ist geschehen. Dabei konnte früher jeder Katholik, der zur Messe ging, das große Credo auswendig. „Vollständige Annahme des Konzils“?
Die größte Schwierigkeit scheint die Pius-Bruderschaft zu haben mit dem Dekret über die Religionsfreiheit, das der Bruderschaft in seinem Kern der traditionellen Lehre der Kirche zu widersprechen scheint. Dass es sich um einen solchen Bruch handelt, darin sind sich die Bruderschaft und leidenschaftliche Verteidiger der neuen kirchlichen Lehre über die Religionsfreiheit wie Ernst Wolfgang Böckenförde einig. Für die einen ist dieser Bruch ein Argument für die Illegitimität der neuen These, für die anderen ein Argument gegen die Verbindlichkeit der Tradition. Tatsächlich haben es die Konzilsväter versäumt, das Verhältnis der Lehre dieses Dekrets zu der Tradition zu thematisieren. Lediglich in der Einleitung heißt es, dass die Lehre von der Religionsfreiheit „die überlieferte katholische Lehre von der moralischen Pflicht der Menschen und der Gesellschaften gegenüber der wahren Religion und der einzigen Kirche Christi unangetastet lasse“. Das heißt aber, dass jede Auslegung dieser neuen Lehre, die im Widerspruch zu diesem Satz steht, der Intention des Konzils widerspricht, falls man hier überhaupt von einer einheitlichen Intention sprechen kann. In diesem Falle also müssten alle Harmonisierungsbestrebungen unterstützt werden, wie sie vor allem in Frankreich mit Erfolg versucht worden sind (vor allem in der römischen Dissertation von Basil Valuet, Mönch der Abtei in Le Barroux, die den Titel trägt „Le droit à la liberté religieuse dans la tradition de léglise?“) Jedenfalls scheint die Bestreitung der traditionellen Lehre von „den Pflichten der Gesellschaft gegenüber der einzig wahren Kirche“ im Widerspruch zu dem nachfolgenden Konzilstext zu stehen. Nur eine „Hermeneutik des Konzils“ (Benedikt XVI.) kann hier weiterhelfen und zu einem Konsens führen. Der Dialog, der hier begonnen wird, wird mühsam sein. Im besten Fall wird er zu einer Vertiefung der kirchlichen Lehre von der bürgerlichen Freiheit öffentlicher Religionsausübung führen. Allerdings handelt es sich hier um einen Dissens ohne jede praktische Bedeutung.
Der religiös homogene Staat hat seinen Status als „societas perfecta“ längst verloren. Wir leben in einer multireligiösen Weltgesellschaft, wie Gorbatschow klar sah, als er der kommunistischen Partei erklärte, weltanschauliche Homogenität sei nicht mehr möglich. Für eine solche Gesellschaft gilt das von Pius XII. formulierte Toleranzprinzip. Die Situation ist vergleichbar der Aufhebung des anderthalb Jahrtausende alten Zinsverbots durch die Kirche, der sich damals zum Beispiel die Dominikaner leidenschaftlich widersetzten. Die Sache war nur die: Zins in einer neuzeitlichen Geldwirtschaft ist nicht mehr dasselbe wie der Zins, den ich nehme für eine Leihgabe an einen Bruder, der in einer Notlage ist.
Die Differenz zur Pius-Bruderschaft kann sich nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Warum der Religionsfreiheit drehen – Religionsfreiheit entweder personalistisch begründet oder aus den Erfordernissen des Gemeinwohls. Das Resultat ist dasselbe. Also ein folgenloser Prinzipienstreit. Aber für diesen gilt das Wort Wittgensteins: „Ein Rad, bei dessen Drehung sich nichts mitdreht, gehört nicht zur Maschine.
Der Erfolg der Gespräche mit der Pius-Bruderschaft ist keineswegs sicher. Diesen von vornherein als „unwahrscheinlich“ zu bezeichnen, ist der Sache nicht angemessen. Wo es um das Wirken des Heiligen Geistes durch ein Versöhnungswerk geht, haben Christen nicht pessimistische oder optimistische Wahrscheinlichkeitskalküle anzustellen, sondern zu beten und ein Wunder zu erflehen. Der christliche Glaube ist Wunderglaube. Er vertraut auf das Wort des Herrn: „Wenn schon ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wieviel mehr wird euer himmlischer Vater den Heiligen Geist denen geben, die ihn darum bitten.“
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