Ein bekannter Topos moderner Bibelwissenschaft ist, daß die synoptischen Evangelien erst nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 geschrieben worden sein könnten, weil sie von Jesu Vorhersage dieses Ereignisses berichten (Mtth. 24; Mc. 13,1; Lc. 21,5 ff.), welche ein Vaticinium ex eventu sei.
Daß das sachlich nicht gerechtfertigt ist, ist schon von vielen aufgezeigt worden (im Netz etwa aus dem Hollerbusch). Nur: was ist das Motiv für diesen Topos?
Er setzt offenkundig voraus, daß der Glaube der Evangelien unwahr sei, daß es also auch keine echten Prophezeiungen Jesu geben könne. Daß nun glaubensferne Ansichten leichter zu begründen sind, wenn man die Evangelien spät datiert, den zeitlichen Zusammenhang zwischen den Aposteln und den Evangelien aufreißt, leuchtet ein. Aber deshalb auf solch ein schwaches Argument zurückgreifen?
Wenn ein unvoreingenommener nichtchristlicher Wissenschaftler, ein Parse etwa, ein Hindu- oder Shintoist oder auch ein unvoreingenommener Agnostiker die Evangelien studierte, so ginge er wohl nicht von einer echten Prophetie Jesu aus. Doch er sähe: es wurde angezweifelt, ob man dem Kaiser überhaupt Steuern zahlen dürfe (Mtth. 22,17; Lc. 20,22); man verabscheute es, von römischen Soldaten zur Begleitung verpflichtet zu werden (Mtth. 5,41 – angareúein ist ein militärrechtlicher Fachausdruck; vgl. 27,32; Mc. 51,21); einer der Apostel – Simon – war ein Zelot, ein Widerstandskämpfer. Daß es unter diesen Umständen zu einem Aufstand gegen Rom kommen könnte, daß ein solcher mit der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Heiligtums der jüdischen Nation enden könnte, lag nicht ferne – daran konnte auch ein Mensch ohne prophetische Eingebung denken.
Warum also nicht auch Jesus?
Das rabbinische Judentum hat einen „Zaun um das Gesetz“ errichtet, der die Einhaltung der Gebote dadurch sichern soll, daß sie weit über ihren eigentlichen Inhalt hinaus ausgedehnt werden. So wurde das Verbot, das Böcklein in der Milch seiner Mutter zu kochen (Ex. 23,19; 34,26; Deut. 14,21), so ausgedehnt, daß Fleischiges und Milchiges nicht zugleich bei einer Mahlzeit gegessen werden dürfen.
Ähnlich hält es der Unglaube. Er verbietet, mit echten Prophezeiungen Jesu zu rechnen. Aber um ihn zu schützen, hat man noch einen Zaun um ihn aufgerichtet: es darf nicht einmal angenommen werden, daß Jesus recht naheliegende Voraussagen gemacht haben könnte.
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