Freitag, 25. Februar 2022

Sexueller Mißbrauch:
Richtige Einsichten und verdrehte Folgerungen

«Der emeritierte Regensburger Dogmatiker Wolfgang Beinert sieht in der nachkonziliaren Berufungspraxis von Bischöfen durch die Päpste Paul VI., Johannes Paul II. und Benedikt XVI. eine systemische Ursache für Missbrauch in der Kirche», so war jüngst bei katholisch.de zu lesen (Beinert: Pontifikat Johannes Pauls II. hat Missbrauch begünstigt).
Ein hartes Wort; aber:
«Seit den 1970ern dringt kaum etwas nach außen», setzt die Süddeutsche als Untertitel in einen durchaus nicht kirchenfreundlichen Artikel (Nicolas Richter und Ronen Steinke: Missbrauch in der katholischen Kirche: Warum nur wenige Täter bestraft werden. 22. Mai 2019). In diesem Artikel steht: «Wenn man die Akten aus den 1950er- und 1960er-Jahren durchblättert, fällt auf, dass damals mehr Opfer bereit waren zu reden, Jugendliche traten als Zeugen auf, Kirchenleute wurden zu Haftstrafen verurteilt. Später ließ die Anzeigebereitschaft nach, von den 1970er-Jahren an drang kaum mehr etwas nach außen, es sei „offenbar so ein Deckel draufgegangen“, sagt [Oberstaatsanwältin] Ines Karl.»
Gratias Felicitati
An jenem Vorwurf kann demnach etwas dran sein: zumindest für die Ernennungen unter Paul VI. scheint er durchaus begründet*:
Die Gründe benannte schon Kardinal Ratzinger: «Dans les premières années après Vatican II le candidat à l’épiscopat semblait être un prêtre qui devait avant tout être ‘ouvert au monde’ : dans tous les cas, ce prérequis était mis à la première place – In den ersten Jahren nach dem II. Vatikanischen Konzil schien der Kandidat für das Bischofsamt ein Priester zu sein, der vor allem ‚weltoffen‘ sein musste: diese Voraussetzung wurde an die erste Stelle gesetzt» (Joseph Ratzinger: Entretiens sur la foi, Paris 2005; zitiert von Abbé François-Marie Chautard (Paul VI et l’auto-démolition de la Tradition), der darin auch das Motiv für Pauls VI. Rücktrittsforderung an Bischöfe von 75 Jahren sieht).
Später bestätigte der ehemalige Papst diese Sicht noch einmal: «Da nach dem II. Vaticanum auch die Kriterien für Auswahl und Ernennung der Bischöfe geändert worden waren, war auch das Verhältnis der Bischöfe zu ihren Seminaren sehr unterschiedlich. Als Kriterium für die Ernennung neuer Bischöfe wurde nun vor allen Dingen ihre „Konziliarität“ angesehen, worunter freilich sehr Verschiedenes verstanden werden konnte. In der Tat wurde konziliare Gesinnung in vielen Teilen der Kirche als eine der bisherigen Tradition gegenüber kritische oder negative Haltung verstanden, die nun durch ein neues, radikal offenes Verhältnis zur Welt ersetzt werden sollte. ... Es gab – nicht nur in den Vereinigten Staaten von Amerika – einzelne Bischöfe, die die katholische Tradition insgesamt ablehnten und in ihren Bistümern eine Art von neuer moderner „Katholizität“ auszubilden trachteten.» (Die Kirche und der Skandal des sexuellen Mißbrauchs. II. Erste kirchliche Reaktionen, 1.)
Doch dann verkehrt der anfangs zitierte Dogmatiker diese Einsicht in ihr Gegenteil: «Mit dem von dieser Bischofsgeneration geforderten unbedingten Papstgehorsam „wandte sich die Kirche neuerlich jenem rückschrittlichen Antimodernismus zu, der sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt hatte“», der den Mißbrauch begünstigt hätte – als seien nicht „Konziliarität“, „Weltoffenheit“ die neuen Kriterien gewesen, sondern Antimodernismus. Der Trick des Dogmatikers: er setzt «selbstbewusstes Agieren» mit Modernismus in eins.

Dieser verdrehte Gedankengang hat Anklang gefunden auch bei einem hochrangigen deutschen Kirchenmann: Der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz hatte an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz einen kritischen Brief zum Synodalen Weg geschrieben; diesen Brief nun kritisiert seinerseits der Essener Generalvikar Pfeffer auf Facebook; katholisch.de hat dieses Post veröffentlicht (Pfeffer über Brief polnischer Bischöfe: Hochklerikaler Antimodernismus).
Was einen deutschen Generalvikar sich berechtigt fühlen läßt, den Brief des Vorsitzenden der Bischofskonferenz eines anderen Landes derart herunterzumachen, ist einfach zu erraten: es ist der tiefverankerte deutsche Antipolonismus. Dankenswerterweise bekommt er Widerspruch von einem deutschen Bischof: Bischof Wolfgang Ipolt von Görlitz (Ipolt: Sollten beim Synodalen Weg auf Stimme aus der Weltkirche hören), leider ein wenig halbherzig: «Dass wir [die deutsche und die polnische Kirche] ganz sicher in mancher Hinsicht verschiedene Zugänge zum Glauben und zur Kirche haben, das darf unseren guten Beziehungen keinen Abbruch tun» – daß der Synodale Weg (s.u.) den deutschen Zugang ein wenig zugeschüttet hat, bleibt hinzuzufügen.

*: Johannes Paul II. und Benedikt XVI. haben sich wohl bemüht; doch nicht selten mangelte es an geeigneten Kandidaten, und auch die Menschenkenntnis dieser beiden Päpsten steht nicht außer Frage.

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