Man stelle sich vor, jemand behauptete: „C. Julius Caesar war ein mäßig erfolgreicher römischer Politiker in den Wirren der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts (einer unter vielen), der dann wie so viele andere im Laufe der Bürgerkriege ermordet wurde. Doch als es dann C. Octavius gelang, die Herrschaft über das Römische Reich dauerhaft an sich zu ziehen, erklärte er Caesar, der im Unterschied zu ihm selbst aus einem der angesehensten Geschlechter Roms stammte, zu seinem Adoptivvater, sich selbst zu seinem Erben, nahm dessen Namen an (mit dem Beinamen Octavianus) und ließ ihn verherrlichen als großen Feldherrn und großen Herrscher über Rom, gütig („clementia Caesaris“) und reich an Verdiensten, dessen glorreiche Herrschaft durch den Mord an ihm unterbrochen worden sei und nun von ihm, Octavianus Augustus, vollendet werde.“
Es mag sein, daß diese These von dem einen oder anderen Feuilleton bejubelt würde, aber bei Altphilologen und Althistorikern würde sie keinen Augenblick ernstgenommen.
Doch in der Theologie tauchen vergleichbare Thesen auf. Jesus sei ein Wanderprediger gewesen (einer unter vielen); er „wollte keine Kirche gründen, schon gar nicht im Sinn der konstantinischen Wende. Er kannte seine späteren Hoheitstitel nicht [damit sind offenbar die in den Evangelien überlieferten „Titel“ wie Christus – Messias, Sohn Gottes, Heiliger Gottes, König von Israel gemeint] und suchte nicht seinen Tod, schon gar nicht einen Sühnetod, hätte auch von der Erbsünde nichts verstanden.“ All das sei ihm später erst von den Jüngern, den Aposteln zugeschrieben worden, besonders von Paulus, oder auch von einer nicht näher faßbaren Stimme der „Gemeinde“ („Gemeindebildung“).
Solche Thesen sind nicht nur von dem einen oder anderen Feuilleton bejubelt worden, sondern Konsens geworden in großen Bereichen der Theologie beider großen westlichen Konfessionen. Das Zitat in der Mitte stammt von einem katholischen Theologen, Hermann Häring („Hat die Institution Kirche im 21. Jahrhundert ausgedient?“).
Die Frage, wer größere Möglichkeiten gehabt hätte, eine solch unhistorische Sicht durchzusetzen, ist leicht zu beantworten: Augustus standen alle Machtmittel des Imperium zur Verfügung, und es mangelte zu seiner Zeit nicht an großen Dichtern und Geschichtsschreibern, die ihm ergeben waren. Die Urkirche hatte keine Machtmittel, konnte Dissidenten nicht kontrollieren; und antichristliche Polemik war im Römischen Reich noch über die Konstantinische Wende hinaus möglich.
Wer unbefangen die Evangelien liest, kann nur entweder Jesus absurde Größenphantasien zusprechen oder aber in Ihm einen einzigartigen Einbruch Gottes in diese Welt erkennen. Wenn aber jemand das letztere nicht glauben will, vorm ersteren aber zurückschreckt, sei es, weil er noch eine sentimentale Bindung ans Christentum hat, sei es, weil die Kirche gut dotierte Stellen zu vergeben hat oder zumindest die Missio canonica für solche erteilen muß, so kann er sich mit solchen Thesen durchzulavieren suchen. Dafür aber muß er sehr vieles von der biblischen Überlieferung „exegetisch entsorgen“, wie Klaus Berger es formulierte.
Doch wenn jemand keine solche Stelle innehat noch sie sucht: welchen Sinn sollte für ihn ein so entleerter Glaube haben? „Hat die Institution Kirche im 21. Jahrhundert ausgedient?“ Mit solcher Theologie hätte sie schon längst ausgedient.
Allerdings geht der oben angeführte Hermann Häring (aus dem Hause „Weltethos“, „Promotion und Habilitation wurden von Prof. Dr. Hans Küng begleitet“) noch weiter. Zuvor hatte er noch Alfred Loisys beliebten polemischen Spruch zitiert: „Jesus verkündete das Reich Gottes, doch gekommen ist die Kirche.“ Doch selber läßt er auch das Reich Gottes weg: „Durch sein Handeln und seine Zuwendung zu den Verlorenen ließ er vielmehr das durch und durch säkulare, weil human orientierte Reich der Gerechtigkeit beginnen.“
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