In älteren Leseordnung bestanden die Lesungen in der Regel aus einem zusammenhängenden Stück eines biblischen Buches. Daß ein Stück gelesen wurde, bei dem Sätze oder auch größere Textstücke ausgelassen sind, war selten; und es gab das nur bei alttestamentlichen Lesungen und Lesungen aus der Apostelgeschichte. In der neuen Leseordnung ist das häufiger geworden, kommt nun auch bei Evangelien vor.
So auch beim Evangelium vom Feste der Taufe des Herrn im Lukas-Jahr (Lk. 3, 15-16. 21-22). Daß die Verse 19-20 ausgelassen werden, hat einen einleuchtenden Grund: sie bilden einen Exkurs, handeln von der Gefangennahme des Täufers, die erst später geschehen ist, darum auch bei Matthäus und Markus erst später berichtet wird.
Die Verse 17-18 aber gehören wirklich hierher; es gibt keinen vernünftigen Grund, sie auszulassen:
«Schon hält er die Schaufel in der Hand, um seine Tenne zu reinigen und den Weizen in seine Scheune zu sammeln; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen. Mit diesen und vielen anderen Worten ermahnte er das Volk und verkündete die frohe Botschaft.»
Diese Verse fallen nicht ganz weg, am III. Adventssonntag erscheinen sie und auch im Matthäus-Jahr ihre Parallele; nichtsdestoweniger ein Mangel an Respekt vor dem Evangelisten.
Eine Erklärung weiß Norbert Lohfink (Zur Perikopenordnung für die Sonntage im Jahreskreis. Heiliger Dienst 55 (2001) 37-57; I. Probleme beim "Ordo lectionum Missae"):
«5. Dann – was nicht allgemein bekannt ist – gibt es eine Gesamtsumme der Minuten, die alle drei Lesungen zusammen dauern dürfen. Ist eine Lesung ungewöhnlich lang, müssen die andern kürzer sein. Entsprechend sind viele biblische Texte am Rande gestutzt und auch im Innern zusammengestrichen.»
«(Zu 5.) Hinter der festen Zeitregel steht vermutlich vor allem eine Diskussion, die auf der entscheidenden Sitzung des nachkonziliaren "Coetus XI de lectionibus" in Klosterneuburg einen ganzen Tag beanspruchte. Dort schlug nämlich jemand vor, das alte System eigentlicher Lesungen aufzugeben. Der moderne Mensch habe keine Zeit mehr und vertrage keine langen Texte. Außerdem habe die Exegese nachgewiesen, daß in den Evangelien nicht alle Jesusworte wirklich vom historischen Jesus stammten. Deshalb sei es am besten, ähnlich wie in der modernen Produktwerbung mit griffigen Slogans zu arbeiten. Man könne sich dafür kurze und historisch vertrauenswürdige Jesusworte aussuchen. Jedem Sonntag ein knappes, aber eindrucksvoll proklamiertes echtes Jesuswort – das genüge und sei wirksamer als lange Texte.
Nach heftiger Diskussion wurde dieser Vorschlag dann doch nicht angenommen. Aber es scheint, daß die dadurch entstandene Sensibilität für die angebliche Unfähigkeit des modernen Menschen, einer Sache mehr als einige wenige Minuten zuzuhören, wesentlich dazu beitrug, daß der "Coetus" mit eiserner Härte an seinen gekürzten und verstümmelten Bibelperikopen festhielt – gegen alle Einwände, und die gab es bald in Menge.» (Es lohnt sich, weiterzulesen.)
Weiterzulesen – an einer Stelle jedenfalls hat Norbert Lohfink Unrecht: «(Zu 4.) Die Dreizahl der Lesejahre ist erstaunlich reibungslos akzeptiert worden, obwohl es dafür eigentlich keinerlei Tradition gab, zumindest keine christliche» – die Zürcher und Peterlinger Messbuch-Fragmente aus dem Beneventanischen Ritus, der eng mit dem römischen verwandt ist, bezeugen das Gegenteil.
Also eine Art theologisch zensierter Reader’s Digest-Version kirchlicher Lesungen. Was aber die «Gesamtsumme der Minuten» angeht, so ist meistens die Predigt länger als alle drei Lesungen zusammen – hier lohnte es sich, Minuten zu sparen.
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