Mittwoch, 30. Oktober 2024

Üble Nachrede gegen die Kirche und den seligen Carlo Acutis

Unter dem Titel „Nekromantischer Wanderzirkus“ ist ein Artikel über den seligen Carlo Acutis erschienen, in dem neben Kritik an der Rundfahrt des Herzens des Toten – die durchaus beanstandet werden darf – die bedeutendste Leistung des Seligen, sein Netz-Situs über Eucharistische Wunder, mittels einer Unwahrheit in übles Licht gerückt wird:
«Während seines kurzen Lebens war der Knabe ganz in seinen Hobbys aufgegangen: katholische Messe und Homepagebasteln. Besonders gerühmt wird die, auf der er einen in 17 Sprachen übersetzten Katalog sogenannter „eucharistischer Wunder“ präsentiert hat.
Das ist der widerlichste Aspekt der Historie vom heiligen Nerd: Diese Spezialkategorie der Wunder erzählt fast immer, wie Juden christlich geweihte Hostien geklaut, geschändet und mit Messern auf sie eingestochen hätten – woraufhin aus der Oblate Blut ausgetreten sei. Diese Legenden sollten zum Hass aufstacheln – und sie haben in Frankreich, Belgien und Deutschland Pogrome und Vertreibungswellen ausgelöst.»
«Diese Spezialkategorie der Wunder erzählt fast immer ...» – die Wirklichkeit: unter mehr als hundert Wundern, die der Situs des Seligen anführt, sind einige wenige, die an einen Hostiendiebstahl anknüpfen; und unter diesen sind drei, bei denen Juden beschuldigt wurden, ansonsten wurde die Schuld an solchen Taten bei Christen gesehen (und auch bei diesen dreien findet sich auf dem Situs nichts von der Beschuldigung gegen Juden). Eines von diesen dreien, das von Brüssel 1370, endete in der Tat mit einem Massaker an Juden; bei einem weiteren, Posen 1399, ist über derartige Folgen nichts zu ermitteln. Vom frühesten, Paris 1290, wird ein versöhnliches Ende berichtet: «Dieses Wunder habe viele der Augenzeugen zum christlichen Glauben gebracht, so auch den Verfasser des Berichts» (Wikipedia s.v. Hostienfrevel).
Unter den eucharistischen Wundern, die der Selige anführt, sind etliche sicher belegte, aber auch einige, die eher sagenhaft erscheinen. Weniger ist manch mal mehr – besser wäre es gewesen, wenn er etwas strenger ausgewählt hätte, wenn diese drei jedenfalls nicht dabei gewesen wären (allerdings war die Prüfung für ihn nicht leicht: das Netz war seinerzeit viel weniger umfangreich als heute). Aber es sind drei unter mehr als hundert: unter den eucharistischen Wundern stellen sie eine Ausnahme dar, nicht etwa, wie es jener Artikel vorgibt, die Regel.
Zu genauerem Verständnis solcher Schuldzuschreibungen an Juden ein Blick auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund:
Während vor der ersten Jahrtausendwende Juden in Westeuropa recht friedlich leben konnten, kam im nördlichen Teil Europas im späten XI. Jahrhundert ein mörderischer Antisemitismus auf. Die Kirche stellte sich dem entgegen: Päpste protestierten, der wortgewaltigste Prediger der Zeit, der heilige Bernhard von Clairvaux, wurde nach Deutschland gerufen, um zugunsten der Juden zu predigen. Es nutzte nichts, Massaker wurden verübt. Bischöfe – besonders die Erzbischöfe von Köln und Mainz, die Bischöfe von Worms und Speyer – taten ihr Bestes, Juden zu retten, zum Teil unter eigener Gefahr, gaben ihnen Zuflucht in ihrer Kathedrale oder ihrer Residenz, waren oft aber machtlos gegen den Ansturm des Pöbels.
Vorwand für die Pogrome waren oft Kinderraub und Ritualmord, seit der Wende des XIII. Jahrhunderts Hostienfrevel, seit der Mitte des XIV. Jahrhunderts, als die Pest sich ausbreitete, Brunnenvergiftung. Päpste bemühten sich, dem entgegenzuwirken; Gregor X. ging so weit, anzuordnen, dass eine Zeugenaussage eines Christen gegen einen Juden nur gültig sei, wenn sie von einem Juden bestätigt wird (W. Durant / E. Schneider: Kulturgeschichte der Menschheit, Frankfurt / M. 1981, Bd. 6, S. 60). Das richtete wenig aus, aber doch mehr als nichts – der Rabbiner und Historiker Salo Wittmayer Baron schrieb: «Wäre die katholische Kirche nicht gewesen, so hätten die Juden das Mittelalter im christlichen Europa nicht überstanden» (A Social and Religious History of the Jews. New York 1937, Bd. II, S. 85; hier nach W. Durant / E. Schneider, ebd.).
Die Faktengrundlage für solche Beschuldigungen:
Bei den angeblichen Brunnenvergiftungen war es die Pest. Daß die Pest durch verdorbenes Wasser ausgebreitet werden könnte, ist medizinisch nicht haltbar, doch noch in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts tauchte diese Vorstellung noch in einem Lied («Wir lagen vor Madagaskar») auf.
Zu Hostienfreveln hatten Juden keine Veranlassung; das ihnen zugeschriebene Interesse, durch Mittelsleute an Hostien zu kommen, um sie zu entweihen, erscheint weit hergeholt. Es mag aber Hostiendiebstähle durch abergläubische Christen gegeben haben, derer dann Juden beschuldigt wurden; vor allem aber ist mit reiner Erfindung zu rechnen.
Kinderraub und Ritualmord wären mit der jüdischen Religion nicht vereinbar. Für diese Beschuldigungen wußte Papst Gregor X. eine einfache Erklärung: «Es geschieht, daß die Väter gestorbener Kinder oder andere Christen, die Feinde der Juden sind, diese toten Kinder insgeheim versteckten und versuchen, Geld von den Juden zu erpressen. … Sie behaupten durchaus wahrheitswidrig, daß die Juden selbst diese Kinder gestohlen und ihre Herzen und ihr Blut geopfert hätten» (nach Pinchas Lapide: Rom und die Juden. Ulm 1997, S. 23).
„Wunder“, die mit judenfeindlichen Berichten verknüpft waren, haben auf örtlicher Ebene auch Beifall beim Klerus gefunden, haben dort auch zu befremdlichen Andachtsübungen und -bräuchen geführt; die Kirche aber hat sich immer wieder gegen Beschuldigungen gewandt, welche dem Pöbel Anlaß zu Pogromen gaben.

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