Montag, 28. September 2020

Als die Kirche im falschen „Paradigma“ gelandet war

In zwei Texten, die auf Settimo Cielo veröffentlicht wurden (auf den einen hatten wir bereits hingewiesen), führt Roberto Pertici, unter Berufung auf Carlo Galli und Eric J. Hobsbawm, die in der Zeit des II. Vatikanum sich ausbreitende Krise der Kirche auf einen kultur- und geistesgeschichtlichen Wandel zurück: eine konservative Kultur sei durch eine progressive verdrängt worden.
Im „konservativen Paradigma“ sei der Sinn des Lebens nicht das Glück; überindividuelle „Logiken“ wie der Tradition, dem Staat, der Nation, der Familie, aber auch der Kirche werde der Vorrang zugesprochen, an sie müsse sich der Einzelne anpassen. Opferbreitschaft, Ehre, Mut, Gehorsam, Treue seien die höheren Werte.
Dieser konservativen Kultur gegenüber habe dann eine progressive die Oberhand gewonnen, ein „moralischer Individualismus“, eine „Kultur des Bedürfnisses“, die sich nur schwer einer Norm unterwerfe.
Am härteten getroffen habe dieser Umschwung die traditionelle Familie und die traditionellen Kirchen.
Soziologisch ist die Darlegung sicher berechtigt – und das ist schlimm.
Sicher sind mit dem „konservativen Paradigma“ Werte verbunden – Opferbreitschaft, Ehre, Mut, Gehorsam, Treue –, die auch der christliche Glaube hochschätzt; aber es sind für den Christen keine Werte um ihrer selbst willen. Umgekehrt: daß, ganz im Gegensatz zu diesem „Paradigma“, «das letzte Ziel des menschlichen Lebens das Glücklichsein oder die Seligkeit» ist, lehrt, ganz in der eudämonistischen Tradition des Sokrates, der heilige Thomas (S. Th. Ia IIæ q. 90 a. 2). Gemeinschaften wie Familie und Kirche haben für den Christen hohen Wert, aber sie sind nicht Selbstzweck. Schon in den Zehn Geboten steht, «ehre deinen Vater und deine Mutter», und der Herr selber hat den Mangel an Beistand für sie seitens der Schriftgelehrten gerügt (Marc. 11-13); aber es geht hierbei um die Menschen selbst, nicht um eine Gemeinschaft als Kollektiv. Andererseits ist schon durch Ezechiel (18, 2-4) klargestellt, daß Verantwortung jeder einzelne trägt, nicht etwa die Familie als Kollektiv; und der Herr selber hat gesagt, daß Ihm nachzufolgen den Vorrang hat gegenüber der Familie (Luc. 14, 26), daß der Glaube an Ihn auch Familien spalten werde (Matth. 10, 35-37; Luc. 12, 53). Und Heilige wie Franziskus und Thomas von Aquin haben sich ihrer Familie entgegengestellt, um ihrer Berufung zu folgen.
Noch als Schüler in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts mußte ich manchmal hören, man müsse sich der Gemeinschaft unterordnen; und dieser Satz hat mich geärgert. Weder jenes „konservative Paradigma“ noch der normenlose progressive „moralische Individualismus“ (der heute, in Zeiten der politischen Korrektheit, in nie gekannter Weise von Normen überwuchert ist) entsprechen dem christlichen Glauben; letztlich sind sie zwei – wenn auch gegensätzliche – Varianten des Modernismus. Aber es stimmt, daß der Abstand des Christentums von der konservativen Variante, wie sie sich seit dem XIX. Jahrhundert entwickelt hatte, oft nicht sichtbar war und so vor der Welt das Profil des Glaubens verwischt erschien – was das Überhandnehmen der progressiven Variante begünstigt hat.

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